Prof. Gregor Eugen Morfill,
Direktor am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik, Garching,
Deutscher Projektleiter des Plasmakristall-Experiments:
Komplexe Plasmen - Einführung in
das Plasmakristall-Projekt
Ein Gas besteht aus vielen Atomen, die durch Stöße untereinander völlig ungeordnete Bewegungen durchführen. Ein Plasma ist ein heißes Gas, in dem sich die Atome in ihre Bestandteile positiv geladene Ionen und negativ geladene Elektronen aufgelöst haben (z.B. durch Stoßionisation). Insgesamt gesehen ist das Plasma also ladungsneutral (gleiche Anzahl positiver und negativer Ladungen). Ein komplexes Plasma ist in der Zusammensetzung komplex es besteht aus Elektronen, Ionen, Neutralgas und Kolloiden (kleinen Mikroteilchen) ist aber trotzdem ebenfalls insgesamt ladungsneutral.
Im Jahr 1994 konnte eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik erstmals nachweisen, daß solche komplexe (oder kolloide) Plasmen sich unter bestimmten Bedingungen spontan selbst organisieren und sowohl flüssige als auch kristalline Formen annehmen. Im Gegensatz zu den am Max-Planck-Institut für Quantenoptik untersuchten Ionenkristallen sind diese sogenannten Plasmakristalle insgesamt ladungsneutral es handelt sich um einen bis dahin unbekannten Plasmazustand.
Unter kontrollierten Bedingungen im Labor lassen sich die Eigenschaften dieses neuen Plasmazustandes auf dem fundamentalsten Niveau dem kinetischen Niveau experimentell untersuchen (jedes einzelne Teilchen kann sichtbar gemacht und seine Bewegung gemessen werden). Gleichzeitig bewirken die Mikroteilchen, daß die charakteristischen Zeitskalen, welche die Dynamik des Plasmas bestimmen, von üblicherweise Mikrosekunden auf Zehntelsekunden verlangsamt werden die Plasmaphysik ist praktisch in Zeitlupe erforschbar.
Untersuchungen unter Schwerelosigkeit erlauben die Erforschung dieses neuen Plasmazustandes in Parameterbereichen, die bis zu fünf Größenordnungen von denen auf der Erde erreichbaren abweichen, so daß im Prinzip auch schwache Wechselwirkungen (z.B. Oberflächen- und Grenzflächenphänomene) direkt meßbar werden.
Natürlich erwartet man von diesen Forschungen neue fundamentale Erkenntnisse z.B. über die Selbstorganisation der Materie bei Phasenübergängen (Verflüssigung, Kristallbildung), über die Physik stark gekoppelter Plasmen, über die mikroskopischen Prozesse in stark gekoppelten magnetisierten Plasmen, über anisorope Systeme, Oberflächendynamik usw. Das drückt sich auch in Zahlen aus: Seit der Entdeckung 1994 haben mittlerweile weltweit ca. 30 Labors diese Forschungsrichtung aufgegriffen.
Hinzu kommt ein mögliches kommerzielles Interesse. Die Plasmatechnologie ist ein großer und wichtiger Wirtschaftszweig, ebenso wie die Kolloidtechnologie. Die Kombination also die Plasma-Kolloidtechnologie hat ein gewaltiges Zukunftspotential. Allerdings erfordert eine kommerzielle Nutzung z.B. die kontrollierte Manipulation, etwa kontrolliertes in situ-Partikelwachstum und steuerbare Deposition. Dazu müssen zuerst wichtige Elemente der Grundlagen erforscht und verstanden werden. Diese Grundlagenforschung nutzt z.T. herkömmliche industrielle Plasmatechnologien (z.B. Radiofrequenz-Entladungen, sowohl kapazitiv als auch induktiv gekoppelt, Direkt-entladungen, UV und Verbrennungsplasmen). Das erleichtert den eventuellen Transfer von Erkenntnissen.
Das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik möchte seine weltweite Führungsposition auf diesem für die Grundlagenforschung und für zukünftige Anwendungen hochinteressanten Arbeitsgebiet erhalten. Dazu muß angesichts der wachsenden Konkurrenz eine doppelte Strategie eingeschlagen werden:
- Ausbau der Laboraktivitäten mit den Schwerpunkten starke Magnetfelder (die erstmalige Erforschung stark gekoppelter und stark magnetisierter Plasmen, die erstmalige Erforschung paramagnetischer Plasmakristalle und flüssigkeiten, und die erstmalige Erforschung anisotroper Systeme), und aktive Teilchenmanipulation (die Entwicklung adaptiver Elektroden, gezielte Teilchenmanipulation durch lasergesteuerten Strahlungsdruck usw.), gekoppelt mit der Entwicklung neuer Diagnose-, Datenaufnahme- und Archivierungsmethoden bzw. Verfahren. Einige dieser Entwicklungen sind bereits von der Max-Planck-Gesellschaft patentiert worden.
- Aufbau eines Mikroschwerkraft-Plasmalabors für die langfristige Grundlagenforschung auf der Internationalen Raumstation (ISS). Im Labor spielt die Schwerkraft trotz der geringen Masse der Mikroteilchen (ca. 10-10g) eine dominierende Rolle, die für bestimmte Zwecke (Ausrichtung, Deposition) sehr wichtig ist. Unter Schwerelosigkeit ist es im Prinzip möglich, in Bereiche ganz schwacher Wechselwirkungen vorzustoßen und Phänomene, wie z.B. Grenzflächenphysik, Scherströmungen, Reibungsprozesse, Oberflächenspannung usw., praktisch auf dem mikroskopischen (kinetischen, molekularen) Niveau erstmals zu erforschen. Das erfordert spezielle Entwicklungen im Plasmakammer-Design, in der Sensorik, der Diagnostik, der aktiven Experimentiertechnik und dem Datenmanagement.
Das erste
Weltraum-Experiment (Plasmakristall) ist bereits im Aufbau. Es soll Anfang
2000 auf dem Service Module der ISS fliegen und mit maximal 40 Stunden
Experimentzeit erste systematische Untersuchungen durchführen. Die Hardware wird in
Deutschland gebaut und in Zusammenarbeit mit dem High Energy Density Research Center HDRC
(Moskau) betrieben. Zur Gewährleistung einer langfristigen Forschungsplattform wurde ein
multinationaler Vorschlag unter der Federführung des Max-Planck-Instituts für
extraterrestrische Physik (MPE) bei der Europäischen Weltraumbehörde (ESA) eingereicht.
In einem aufwendigen Peer-Review-Verfahren ist dieser Vorschlag zusammen mit weiteren 144
Vorschlägen begutachtet und als einer von insgesamt sechs mit dem Prädikat
outstanding benotet worden. Damit ist die Ausgangsposition für eine
Realisierung dieser International Microgravity Plasma Facility (IMPF) gut. Die
lange Erfahrung mit Weltraumaktivitäten, die das MPE in diesem Zusammenhang vorweisen
kann, ist für dieses neue Forschungsgebiet ebenfalls sehr wichtig.
Für das Laborprogramm fehlen noch Ressourcen, die vom MPE allein trotz starker Bemühungen nicht aufgebracht werden können. Defizite bestehen im Investitionsbereich, in der Überbrückung von Personalstellen und in der Nachwuchsförderung (insbesondere im Auslandsgäste-Programm). Der Grund liegt darin, daß eine (ehemals) theoretisch arbeitende Gruppe zu einer teil-experimentellen Gruppe umgewandelt werden muß. Das ist im Haushaltsplan des MPE nicht vorgesehen. Erst in ca. fünf Jahren kann die Umschichtung der Ressourcen abgeschlossen werden. So lange kann das MPE natürlich nicht warten, sonst wäre es nicht mehr konkurrenzfähig.
Entsprechend der Empfehlung des Sonder-Fachbeirats, der zur Evaluierung dieser Forschung einberufen wurde, sind Kontakte zum Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP), Garching, geknüpft worden. Die Unterbringung von Laboraktivitäten im IPP, die Durchführung eines gemeinsamen Experiments mit paramagnetischen Mikroteilchen und die geplante theoretische/numerische Unterstützung der Forschung durch Experten des IPP sind erste greifbare Erfolge dieser Kontakte. Das Einbringen des kolloidalen Plasma-Know-hows für die Fusionsforschung (Bereich Plasma-Wand-Wechselwirkung) wird ebenfalls diskutiert.
Zum Schluß soll noch auf die Max-Planck-Komponente dieses Forschungsgebiets (im Sinne des Subsidiaritätsprinzips) eingegangen werden. Natürlich können einzelne Aspekte dieser Forschung in Universitätsinstituten durchgeführt werden (das findet ja bereits an vielen Stellen statt). Ein integriertes Weltraum/Laborprogramm mit Schwerpunkt auf der Erschließung neuer Parameterbereiche und Phänomene ist für die Universitäten allerdings zu aufwendig. Umgekehrt ist geplant, die Universitätsinstitute an der Weltraum-Facility als Forschungsgelegenheit zu beteiligen.